Krise als Heldenreise

Die Alte Schule - Krise als Heldenreise

 

von Silke Linder

Eine für mich sehr sinngebende Antwort liegt in dem archetypischen Bild der HeldInnenreise. Wie der Zyklus unseres Jahreskreises, wie der Prozess von Geburt und Sterben und ebenso wie der Verlauf unseres eigenen Lebens ist dieser Mythos der HeldInnenreise auch auf das Kollektive übertragbar. Diese Erkenntnis formulierte bereits C. G. Jung im letzten Jahrhundert und griff damit ein altes Wissen auf, das schon in Urzeiten von unseren Vorfahren beschrieben wurde. Das Bild des Labyrinths versinnbildlicht diesen Mythos.

Die HeldInnenreise hat eine archetypische Grundstruktur, die in Sagen, Mythen, Märchen und auch Filmen interkulturell zu allen Zeiten beschrieben wurde. Sie ist durch eine typische Folge von Situationen und Figuren gekennzeichnet. Auslöser der Heldenfahrt ist meist ein Mangel oder ein Zusammenbruch vertrauter Lebensbedingungen. Sie treibt den Heros aus seiner gewohnten Umgebung.

Joseph Campbell hat in seinem wundervollen Buch „Der Heros in tausend Gestalten“ dieses transpersonale Prinzip beschrieben. Der Heros bricht auf, um das Problem zu lösen. Oder wie Campbell formuliert, das Lebenselixier zu finden, mit dem das gestörte Gleichgewicht wiederhergestellt werden kann. Damit verbunden ist meist ein psychologisches Ziel, eine Erkenntnis oder ein Reifeprozess. Schließlich macht die Reise den Heros von einem abhängigen Geschöpf zu einem „selbstverantwortlichen Schöpfer seines Lebens“.

Das, was wir zur Zeit erleben, kann meiner Meinung nach auf diese Reise übertragen werden. Die Corona-Krise hat eine kollektive und gleichzeitig eine ganz persönliche Bedeutung. Wie bei Hermes Trismegistos schon erklärt, wie unten so oben, der Mikrokosmos und der Makrokosmos sind eins.

Der Ruf des Helden /der Heldin als Beginn der Reise

Die HeldInnen- oder SchamanInnenreise beginnt immer mit dem Ruf des Helden/der Heldin, der durch einen Mangel oder das plötzliche Erscheinen einer Aufgabe auftritt.

Der Held zögert zunächst, dem Ruf zu folgen, da dieser Ruf immer bedeutet, Sicherheit und Komfort zu verlassen.
Wenn ich das auf unsere jetzige Situation beziehe, dann war der Ruf von Mutter Erde schon lange vor dem Virus zu hören und es gab gerade im Vorfeld dieser Entwicklung, einige Anzeichen und Bewegungen, die das verdeutlicht haben.
Diesen Ruf kann man/frau nicht auf ewig ignorieren. Es kommt schlussendlich ein äußerer Impuls und der Heros wird gezwungen, dem Ruf zu folgen und somit die erste Schwelle zu durchschreiten.

Im Auftreten des Virus ist dieser imperative Impuls zu erkennen, und die Eigendynamik, die in dem weiteren Verlauf zum Ausdruck kommt, zeigt den archetypischen Aspekt. Es liegt nicht mehr in unserer Kontrolle, wir werden damit konfrontiert, dass die vermeintliche Sicherheit nicht existiert. Jetzt geht es darum, wie wir von einer äußeren Sicherheit in eine innere Sicherheit kommen, denn nur mit der inneren Sicherheit, kann der Weg der Prüfungen gemeistert werden.

Der Weg der Prüfungen ist die herausfordernde Aufgabe des Heros. Am Anfang dieses Weges steht immer die Angst, denn es gibt keine Garantie für den erfolgreichen Abschluss. Will der Heros diesen Gang unversehrt durchlaufen, muss er klare Entscheidungen treffen und sich mit seiner/ihrer Angst auseinandersetzen. Nur dadurch wird er/sie eine höhere Bewusstseinsstufe erreichen. Immer aufs Neue treten in dieser Phase neue Probleme auf, die als Prüfungen interpretiert werden können. Auseinandersetzungen, die sich als Kämpfe gegen die eigenen inneren Widerstände und Illusionen erweisen können.

Aus meiner Sicht befinden wir uns momentan in dieser Phase. Das wird auch darin  deutlich, dass es viele z.T. gänzlich widersprüchliche Aussagen zu dem Virus gibt wie auch zu den daraus resultierenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Massnahmen.

Die Dynamik und Lebendigkeit dieser Phase empfinde ich sehr positiv, zeigt dies doch, dass nun auch die persönlichen Aspekte der Menschen zu tage treten.
Dennoch ist diese Phase (auch bei der Geburt und beim Sterben) die kritischste. Während der Geburt stellt sie die Phase dar, in der das Kind in den Geburtskanal geschoben wird und der Muttermund sich langsam öffnen muss. Hier kann manches schief gehen. Gerade in dieser Phase sind wir aufgefordert, Angst zu überwinden und den eigenen Lebenswillen zu aktivieren. Die Chance liegt darin, dass jede/r in der Überwindung dieses Weges über die eigenen Schatten hinauswachsen kann. Auf der kollektiven Ebene wäre dies das Bündeln der Kraft in eine neue friedvolle, humanitäre und liebevolle Welt. Daher ist gerade nun die Zeit, die Bewegung in eine neue Richtung zu lenken.

Ich freue mich, wenn wir alle dafür die entsprechenden Weichen stellen, um letztendlich die endgültige Segnung zu erhalten. Der Empfang eines Elixiers oder Schatzes. Damit könnte die Welt, aus der der Held aufgebrochen ist, gerettet werden. Dieser Schatz kann auch aus einer inneren Erfahrung bestehen, die durch einen Gegenstand (wie etwa einen Ring) symbolisiert wird.
Geläutert kehrt der Heros wieder in seine ursprüngliche Umgebung zurück, er/sie ist nicht mehr der/dieselbe. Er/sie setzt ihr bzw. sein neugewonnenes Potential segensreich in seinem Umfeld ein.

Auch für uns ist aktuell deutlich, dass wir nach dem Lockdown, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können. Wir sind nun in der glücklichen Lage, vielfache Schattenaspekte unserer Gemeinschaft zu erkennen, ans Licht zu bringen und ich hoffe und wünsche uns, dass wir gemeinsam das dazu nutzen, neue Weichen zu stellen und unsere Mutter Erde auf eine neue-alte Weise in den Fokus zu nehmen.
Möge jede/r von uns mit Demut und Ehrfurcht diese HeldInnenreise durchschreiten und im
Bewusstsein der Verbundenheit mit Mutter Erde gemeinsam in die Zukunft schauen.